Notfallreform 2023: Eine Reform am Bedarf, an der Realität und an den Ärzten vorbei
In Zeiten versiegender Geldflüsse und drastischen Mangels an medizinischem Personal gilt es umso mehr, die vorhandenen Ressourcen effizient und sorgsam einzusetzen. Ansonsten wird sowohl beim medizinischen Personal als auch bei Patienten Verärgerung, Frustration und Widerstand weiter zunehmen. Dabei ist es im Bereich der Akut- und Notfallversorgung für den Patienten und Beitragszahler vollkommen egal, ob die Kosten vom ambulanten oder vom stationären Sektor getragen werden, entscheidend sind allein Qualität und Effizienz.
Die flächendeckende Installierung von personal- und kostenintensiven Bereitschaftspraxen an Krankenhäusern ist eine Maßnahme, die über den wirklichen Bedarf hinausgeht und eine kostenintransparente 24/7-Mentalität bedient. Wie zu vermuten war, treten durch Ausweitung des Behandlungs- und Serviceangebots an Krankenhäusern Sogeffekte auf. Patienten werden heraus aus den Praxen der niedergelassenen Ärzte an die Krankenhäuser gelotst. Es werden Arzt-Patienten-Kontakte generiert, die an der medizinischen Notwendigkeit vorbeigehen. Und diese Kontakte sind teuer, denn sie finden zu ungünstigen Arbeitszeiten in neu geschaffenen Strukturen statt, mit neu zu aquirierendem medizinischen Personal und in Räumen, die angemietet werden müssen. Die gut ausgestattete Praxis des diensttuenden Bereitschaftsarztes steht währenddessen ungenutzt leer. Um die Kosten für diese neuen Strukturen nicht vollkommen aus dem Ruder laufen zu lassen, wird ärztliches Personal zu indiskutablen Stundenlöhnen zwangsverpflichtet. Denn kaum ein freiberuflicher Arzt möchte in Bereitschaftszimmern am Wochenende oder nachts Patienten behandeln, von denen er weiß, dass mindestens 50 % oder mehr in seine reguläre Akutsprechstunde gehören. Ein Phänomen, welches längst nicht allein durch fehlende Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu erklären ist, sondern vielmehr durch eine steigende Anspruchshaltung und Inanspruchnahme von vermeintlich kostenlosen medizinischen Leistungen. Den Patienten wird durch Bereitschaftspraxen an Krankenhäusern suggeriert, dass sie hier kostenfrei auch zur Unzeit für all ihre medizinischen und sozialen Probleme kompetente Hilfe ggf. mit Nutzung der Strukturen eines Krankenhauses erhalten.
Die Realität sieht allerdings anders aus und sollte auch klar so kommuniziert werden: Die BD-Praxen sind apparativ wesentlich schlechter ausgestattet als jede Primär- und Hausarztpraxis. Labor- und Röntgenuntersuchungen sind nicht möglich. Ultraschalluntersuchungen ebenso nicht. Der Hygienestandard dieser Praxen ist oftmals schlecht. Und am wichtigsten: In diesen Praxen arbeiten nicht ausschließlich generalistisch ausgebildete Fachärzte mit akut- und notfallmedizinischer Expertise, sondern regelmäßig (zwangsweise) Kleingebietsärzte ohne jegliche interdisziplinäre Kompetenzen und ohne akutmedizinische Erfahrung. Ein Facharztstandard existiert also nicht. Folglich kommt es zu unnötigen Doppelbehandlungen bzw. Krankenhauseinweisungen, die man eigentlich gerade vermeiden wollte. Diese Situation ist selbstverständlich aus der Not geboren, denn es finden sich nicht genügend niedergelassene Kollegen mit den notwendigen Kompetenzen, die für einen mickrigen Stundenlohn spät abends und am Wochenende in diesen Praxen arbeiten möchten. Die Königsdisziplin der ambulanten Medizin, nämlich das effektive Detektieren von ernsthaft Erkrankten aus einer Vielzahl von unkritisch Erkrankten (unausgelesenes Patientengut) und deren Therapie wird hier billig verramscht. Ein Schlag ins Gesicht und eine Degradierung all derer Fachärzte, die hier ihre primäre Bestimmung sehen und eine Facharztausbildung durchlaufen haben, um genau diese Kompetenzen zu erwerben (FA Allgemeinmedizin, FA Innere Medizin).
Nirgendwo kann ein Arzt effektiver und kompetenter arbeiten als in seiner eigenen Praxis mit seinem eigenen Personal – und genau dahin müssen die Patienten geleitet werden, wenn zusätzliche Kosten vermieden werden sollen. Die Behandlung zu Unzeiten in einem Bereitschaftskämmerchen muss die absolute Ausnahme bleiben. Es kann nicht sein, dass mehr als jeder zweite Patient in diesen Praxen dort eigentlich gar nicht hingehört und hier nicht wirklicher Bedarf, sondern vermeintliche Bedürfnisse befriedigt werden.
In Zeiten einer finanziellen und personellen Mangelsituation ist es unzumutbar, dermaßen ineffiziente Strukturen mit zwangsrekrutiertem Personal zu etablieren. Die Argumentation „das bisschen Dienst ist doch jedem Arzt zuzumuten“ läuft ins Leere, denn selbst bei einem Pflichtdienst im Quartal sind es 4 Wochenendtage pro Jahr, die so jedem Arzt durch Zwangsdienste verbaut werden. Bei Diensten an Werktagen bis 22 Uhr kommt der Arzt mit dem Arbeitszeitgesetz in Konflikt. All dies ist sicher nicht hilfreich, den Beruf Kassenarzt attraktiver zu machen.
Einer wohlmöglich geringen Entlastung der Notaufnahmen durch die Bereitschaftspraxen steht dem nachweislich ein deutlicher Anstieg der gesamten ambulanten Behandlungszahlen an Krankenhäusern gegenüber – insgesamt ein unerwünschter Effekt. Die Notaufnahmen müssten selbstverständlich personell und juristisch ertüchtigt werden, unkritisch Erkrankte ohne oder nach kurzem Arztkontakt ohne umfangreiche Diagnostik abweisen zu können. Hierfür wäre der Einsatz von entsprechend ausgebildetem ärztlichen Personal in Notaufnahmen hilfreich. Dafür ist keine flächendeckende, kostenintensive, staatlich angeordnete Struktur 24/7 wie eine Bereitschaftspraxis notwendig. Die Apotheker machen es vor: Dienste finden in der eigenen Apotheke statt, nicht zentralistisch. Das ist kosteneffizient für die Patienten zumutbar. Auch dem Sicherstellungsauftrag wäre damit Genüge getan.
Parallel dazu müssen Patienten und auch die Krankenhäuser besser über die vorhandenen Praxisstrukturen und deren Öffnungszeiten informiert werden, was mit digitalen Tools einfach möglich wäre. Zusätzlich sollte eine Kostentransparenz bzw. eine finanzielle Eigenbeteiligung für die Patienten diskutiert werden, die diese Strukturen in Anspruch nehmen möchten.